Virtuelle Anteilnahme an virtueller Betroffenheit

Virtuelle Anteilnahme an virtueller Betroffenheit

Wer erinnert sich noch an den Herbst 1992 und die erste öffentliche Wahrnehmung der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit? Erst die furchtbaren Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen (oder auch treffender “Rostocker Pogrom”), kurz darauf der Mordanschlag von Mölln, die durch die Nachrichten geisterten und jedem klarmachten, dass Rechtsextremismus nicht mehr nur eine skurrile Randerscheinung einiger verstreuter Spinner ist, sondern ein gefährlicher Zündstoff für die gesamte Gesellschaft.

Mit diesen Ereignissen untrennbar verknüpft ist für mich die Erinnerung an die Lichterketten. Die ersten Lichterketten, die nach den Brandanschlägen organisiert wurden, waren in ihrer Spontanität noch ein wichtiges Symbol: „Es sind nicht alle so!“. „Es gibt auch noch viele andere!“. Dem durch die ständige Medienpräsenz der Fremdenfeindlichkeit entstehenden Bild, es handle sich bei um ein breites Phänomen der gesamten Gesellschaft, wurde medial ein Zeichen gegenübergesetzt. Ein naiv-unbedarftes, aber ehrliches Zeichen, das sicherlich nötig war, sei es gegenüber dem Ausland aber auch Ausländern in Deutschland.

In den Monaten und Jahren darauf entwickelten sich Lichterketten dann allerdings zu einem bequemen Betroffenheitsvehikel, zur billigen Gewissensbefreiung mit bestmöglichem Return on Investment. Einfacher konnte man nicht „was tun“ gegen alles, jeden und das Böse überhaupt. Der Gipfel waren die Lichterketten gegen den Golfkrieg: Gut erinnern kann ich mich, wie mich Fragen wie „Was? Du gehst nicht zur Lichterkette? Bist du etwa nicht gegen den Krieg?“ in einer Mischung aus ungläubiger Fassungslosigkeit und Verzweiflung über so viel Einfältigkeit sprachlos resignieren ließen.

Mit Unglauben musste ich jetzt feststellen, dass sich diese Geisteshaltung im 21. Jahrhundert sogar noch toppen lässt. Man kann jetzt sogar die Kerze weglassen und muss auch nicht mehr die bequeme Wohnung verlassen, um sein „gesellschaftliches Engagement“ zu demonstrieren: Einfach der Facebook-Gruppe „Jeder Fan bedeutet eine Kerze für die Opfer in Haiti. Mach mit!“ beitreten, so wie 579.487 andere auch bisher.

Jetzt bin ich wirklich sprachlos.

© 2024 Tobias Henöckl